“Ich muss die Zweigens haben, und Vater muss herüber und sie holen!”
“Vater is bang!” lautete die schüchterne Erwiderung.
“I, was sollt Vater woll bang sein; er muss los – sonsten klag ich ihm ein, wo er mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen, und das Geschäft mit die Bäumens muss anfangen! Nu geh du man, und lass Vater man auch gehn!”
Das Kind, es war ein ziemlich grosses Mädchen, glitt an mir vorüber, und ich konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag.
“Kannst du keine Zweige aus dem grossen Walde kriegen?” fragte ich neugierig. Er aber sah mich streng an.
“Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind besser als die natürlichen!”
Als ich wieder hinauskam, da sass dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens gesprochen hatte, auf der Türschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als ob sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie schweigend. Sie war sehr ärmlich, aber ziemlich sauber gekleidet, nur ihr dickes, blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte ich sie, und ich nickte ihr freundlich zu.
“Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam, weißt du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!”
Sie sah jetzt auf, und ihre Augen blickten weniger trübe.
“Das war so’n feines Buch,” sagte sie, “mit Bildern ein – so’n feines Buch!”
“Hast du kein Lesebuch?” erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung daran dachte, dass ich dieses Buch schon zweimal hinter den Schrank geworfen hatte, nur um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wiedergefunden worden.
Sie schüttelte den Kopf. “Nee – ich hab nix, gar nix!”
“Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?”
“Ich?« Das Mädchen sah überrascht aus. Dann lachte sie. “Was sollt ich mich woll wünschen; ich krieg doch nix!”
“Du bekommst gar nichts?”
Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. “Bist du dann zu Weihnachten nicht furchtbar traurig?”
“Nee” – sie lachte wieder. “Was sollt ich woll traurig sein, wo ich den ganzen Abend rumlauf und in all die Fensters guck und all die Weihnachtsbäumens zu sehen krieg! Mannichmal krieg ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens geschenkt!”
“Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehn!” sagte ich. “Da muss man zu Hause bei seinen Eltern bleiben!”
“Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib ich auch bei ihm; abers er is nu ja ümmerlos im Loch – da sitz ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –”
“Er sitzt im Gefängnis?”
Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft gedrückt. Wir sassen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der ich einige getrocknete Pflaumen hatte, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hiess das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr zusah. Ich hatte mir nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch eine wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangnen vorlesen lassen und nahm jetzt an, dass die Gefängnisse nur dazu da wären, Unschuldige zu quälen.
“Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses getan?” fragte ich.
Dörthe schüttelte den Kopf. “Nee – natürlich nich! Bloss ein büschen Stehlen. Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Abers nach die Tannenzweigen in Holstein will er doch nich hin!”
“Stiehlt er die auch?”
“Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum, und der Baum gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so gross, und da laufen Rehe und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der smeckt abers fein! Vater soll dich ein Stück abgeben, wenn er wieder mal was mitbringt! Na, abers er will diesmal nich gern hin. Die Försters haben ihn so gräslich aufn Strich, und wenn sie ihn kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein, und – denk dich mal! – er muß jedesmal länger sitzen!”
“Dann darf er doch nicht in den grossen Wald gehn!” rief ich aufstehend. Mir war, ich weiss nicht weshalb, doch etwas unheimlich zumute geworden.
“Meister Ahrens will es aber, und wir wohnen in seinem Haus!” Dörthe war ebenfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum.
“Er sagt, Vater muss allens ein büschen vorsichtig machen, und er braucht nicht gleich ein Reh zu nehmen. Abers wenn es nu da herumläuft?”
Auf diese Frage wusste ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe nachfühlen, dass sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben wollte. Ich musste ihr plötzlich noch versprechen, keinem etwas von unsrer Unterhaltung zu erzählen, und dann trennten wir uns.
Jürgen wusste schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte, und es war nur gut, dass ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen, was ich keinem erwachsnen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, dass ich mit Dörthe Krieger gesprochen hatte.
“Ihr Vater ist ein Dieb, und zwar ein ganz gemeiner!” berichtete Jürgen.
“Rasmussen (unsers Grossvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt! Denke dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das feinste beim Stehlen ist – er nimmt meist nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im Gefängnis!”