Der Schnee

von Sophie Reinheimer

Heute war Weihnachten. –
Aber erst heute Abend! – Jetzt war es noch ganz hell und auf der Straße und im Garten, denn es war noch Tag.
“Heute Abend ist Weihnachten”, zwitscherten die Spatzen sich im Garten gegenseitig zu, und dann flogen sie zu den Bäumen und Sträuchern hin, um es denen zu erzählen.
Aber sie wussten es schon.
“Wir haben gesehen, wie der Christbaum in das Haus getragen wurde”, sagten sie. – Die Spatzen hatten aber noch viel mehr gesehen, denn neugierig wie sie nun einmal waren, hatten sie sich den ganzen Nachmittag auf dem Fensterbrett herumgetrieben und in das Zimmer geguckt, worin die Weihnachtsbescherung aufgebaut war.
“Den Christbaum”, sagten sie, “haben wir auch gesehen; aber wir hätten ihn beinahe nicht wiedererkannt, so schön war er geschmückt mit Äpfeln und Nüssen und Gold und Silber und bunten Papierketten.”
“Wie schön!” sagten die Bäume und Sträucher und blickten traurig auf ihre kahlen Äste nieder. Da waren nicht einmal mehr Blätter daran. Und der große Apfelbaum auf dem Rasenplatz gedachte wehmütig der schönen Zeit, in der er auch voll schöner roter Äpfel gehangen hatte.
“Vielleicht sind es meine Äpfel, die nun an dem Christbaum hängen”, sagte er. Das wussten freilich die Spatzen nicht; aber viel anderes wussten sie und erzählten es.
“Der kleine Junge, der Richard, der kriegt eine Kappe und Hermine einen Mantel und ein Buch mit Geschichten; wir haben das alles auf dem Tische liegen sehen; auch eine schöne warme Decke für die Großmutter lag dabei, damit sie nicht friert. Aber das schönste, das kommt erst noch! Heute Abend, wenn die vielen Lichter an dem Christbaum erst alle brennen. Das wird herrlich!”
“Ja – ihr habt`s gut”, brummte die dicke Pumpe, die auch im Garten stand. “Unsereins kriegt keine Geschenke und sieht nichts von Christbaum und Lichtern. Wenn ich doch auch fliegen könnte!”
Darüber mussten die Spatzen nun furchtbar lachen. Es war doch auch zu komisch, zu denken, dass die dicke Pumpe fliegen könne.
Die andern im Garten gaben alle der Pumpe recht. “Wenn man wenigstens eine Kappe geschenkt bekäme”, riefen die hölzernen Pfähle des Gartenzauns.
“Oder einen schönen Mantel”, meinte das Dach der Laube. Der Rasen wollte lieber eine warme Decke haben wie die Großmutter, um seine Grashälmchen damit zuzudecken, denn die froren gar gewaltig in dem kalten Winter.
“Ein Buch mit schönen Geschichten wäre auch nicht übel”, sagten die Sträucher. “Es ist doch manchmal ganz entsetzlich langweilig im Winter, wenn keine Schmetterlinge und Vögel kommen, um uns was zu erzählen.”
So wünschte sich alles im Garten etwas. Ja – wünschen konnten sie sich schon – aber wer sollte die Wünsche alle erfüllen? Das Christkind etwa? Ach – das hatte wahrhaftig gerade genug mit den Menschen zu tun.
Traurig blickten Bäume und Sträucher und der Rasenplatz und die Zaunpfähle zum Himmel hinauf; da war es ganz grau.
“Es ist schon das Klügste, wir schlafen ein”, sagte der Rasen. “Zu sehen bekommen wir ja doch nichts von all den Herrlichkeiten; es ist ja auch schon ganz dunkel geworden.” Die anderen dachten das auch, und bald darauf war es im ganzen Garten mäuschenstill. – Alles schlief.
Aber was war das, das plötzlich oben vom Himmel herunter kam? Lauter kleine weiße Flöckchen, – Schneeflocken waren es. Was wollten sie wohl? Warum kamen sie herunter auf die Erde? Und so leise kamen sie , so leise, dass man sie gar nicht hörte! Und nur ganz sachte sprachen sie miteinander.

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“Wie kalt das ist”, flüsterten die einen; “es ist nur gut, dass uns Mutter Wolke unsere weißen Sternmäntelchen angezogen hat.” Sie waren sehr stolz auf ihre schönen weißen Sternmäntel, und die kleinsten von ihnen tanzten in der Luft herum vor lauter Vergnügen.
Ein paar ganz große Flocken waren auch dabei, aber sie flogen schön langsam und vernünftig ihres Weges daher und hielten auch die andern zur Ordnung an.
“Nun macht eure Sache gut”, sagten sie. “Und dass ihr nichts vergesst! Und dass ihr schön leise macht, damit niemand im Garten aufwacht, sonst ist`s mit der Überraschung vorbei.”
Die Schneeflocken nickten stumm. Nun waren die ersten unten im Garten angelangt. Nichts rührte und regte sich darin, alles schlief. Das war den Schneeflocken gerade recht, denn sie hatten eine große Überraschung vor. Leise wanderten sie zu den schlafenden Sträuchern und zu den Bäumen hin und schmückten sie fein zierlich aus. Kein Zweiglein, auch nicht das allerkleinste, wurde vergessen; es sah aus, als wäre alles in Zucker getaucht. Und wie flink die kleinen Schneeflocken bei ihrer Arbeit waren und wie leise sie sie taten. Es war sehr gut, dass es so viele Schneeflocken waren; denn es gab eine Menge zu tun. Das Dach der Laube sollte einen Mantelkragen bekommen, so wie es sich einen gewünscht hatte. Das war aber gar nicht so leicht; denn die Laube war schon alt und hatte keinen so festen Schlaf mehr. Sie knackste manchmal ganz unheimlich, so dass die Schneeflocken sehr erschraken und schon dachten, die Laube könne aufwachen. Aber sie hatte nur im Traum geknackst, so wie die Menschen manchmal im Traum sprechen.
Am meisten Arbeit aber machte doch die Decke für den großen Rasenplatz. Die guten Schneeflocken gaben ihre eigenen Sternenmäntelchen dazu her – viele, viele tausend davon lagen schon auf dem Rasen. Aber immer noch war die Decke nicht dick und warm genug, und es mussten immer und immer noch Schneeflocken vom Himmel herunterkommen und ihre Mäntelchen oben drauflegen.
Endlich, endlich war die Decke fertig. Es war eine prachtvolle Decke – so frisch und weiß und warm. Nun froren die armen Grashälmchen sicher nicht mehr.
“Ist nun alles fertig?” fragten die Schneeflocken.
“Ach nein – ach nein”, flüsterte es in allen Ecken und Enden, “wir sind noch lange nicht fertig! Es sind aber auch so entsetzlich viele Kappen, die wir aufzusetzen haben. Helft uns doch, helft uns doch, sonst kommt der morgen und wir sind noch nicht fertig!” – Nun ging es aber husch! Husch! An das Austeilen der Kappen. Jedes Ding im Garten, das noch nichts bekommen hatte, bekam ein weißes Schneepelzkäppchen aufgesetzt, jeder Stein, jeder Pfahl am Zaun, sogar die alte Pumpe bekam eins. Weil es aber so arg in der Eile ging, kam es wohl vor, dass eins oder das andere eine Mütze bekam, die ihm zu groß oder zu klein war – oder dass sie ihm schief auf dem Kopfe saß. Aber das schadete nichts. Die Hauptsache war, dass niemand vergessen wurde und dass man bald fertig war. Und man war bald fertig. Nun brauchte keine Schneeflocke mehr zu kommen. Nur noch ein paar wurden von der Mutter Wolke hinabgeschickt; die sollten nachsehen, ob die andern ihre Sache gut gemacht hatten. Das hatten sie wirklich, man konnte mit ihnen zufrieden sein. Und nun war wieder alles ganz still im Garten.
Aber dann am andern Morgen – das hättet ihr sehen sollen! Das war ein Erstaunen, ein Jubel und eine Freude, als nach und nach alle aufwachten und die Bescherung sahen. Die Sträucher wagten sich nicht zu rühren aus Angst, etwas von dem herrlichen Schmuck zu verlieren. Der Rasenplatz war glücklich über die schöne, warme Decke. Die alte Laube aber, die sonst immer am ersten aufgewacht war vor Kälte, die wachte heute zuallerletzt auf, so gut hatte sie in ihrem warmen Kragen geschlafen. Am allermeisten Vergnügen hatten aber doch die Zaunpfähle.

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“Dürfen wir diese schönen Kappen nun wohl immer behalten?” fragten sie. Aber der Morgenwind, der gerade des Weges daherspazierte kam, gab ihnen gleich die gehörige Antwort darauf. “Wo denkt ihr hin”, sagte er, “wartet nur, bis die Sonne kommt, die wird sie euch von den Ohren ziehen; sie mag solche Verwöhnungen nicht leiden.” Er ärgerte die Leute gern ein bisschen, der Morgenwind. “Pfiff!” machte er und blies noch rasch im Vorbeigehen dem einen Strauch ein bisschen von seinem Schmuck herunter, so dass ein kleines weißes Schneewölkchen in die Höhe flog.
Nun kam noch ein anderer Besuch in den Garten, ein Rabe, ganz feierlich, im schwarzen Anzug.
Er habe von der herrlichen Bescherung gehört und komme, sie sich anzusehen, sagte er. Dabei nahm er auf der alten Pumpe Platz.
“Was haben sie denn da für eine Schlafmütze auf?” fragte er. “Sind Sie so faul, dass Sie eine brauchen?” Und dabei hob er das eine Bein und strich der Pumpe die schöne, neue Kappe vom Kopfe herunter.
“Mach, dass du fortkommst, Grobian!” sagte sie und drohte ihm mit ihrem Schwengel, so dass der Rabe Angst bekam und fortflog.
“Ich will einmal probieren, wie sich`s auf dem neuen Teppich geht”, sagte er. “Ganz schön, nur ein bisschen glatt ist er, so ganz ohne Muster, ich will mal eins daraufmachen.”
Und nun hüpfte er auf dem Teppich herum, und überall, wo er hinhüpfte, gab es Striche, so dass der Teppich wirklich ganz gemustert aussah. Die andern fanden, dass der Teppich früher viel schöner gewesen war; aber dem Raben gefiel es so viel besser. Und er hätte sicher noch mehr Muster auf den Teppich gemacht, wenn – ja wenn nicht plötzlich mit großer Geschwindigkeit etwas Rotes dahergesaust gekommen wäre. Es war ein Schlitten. Die Kinder hatten ihn zu Weihnachten bekommen und freuten sich nun sehr, dass das Christkind ihnen auch Schnee dazu geschickt hatte. Rings um den Rasen herum ging die fröhliche Fahrt. Dann wurde haltgemacht, und nun kamen die Schneeballen an die Reihe. Hui! Da flogen sie – hier einer, da einer. Es war ein großes Vergnügen, ein richtiges, echtes Wintervergnügen.
Aber das schönste kam noch. Das schönste war ein Schneemann, den die Kinder aufbauten, gerade vor der alten Laube, als stehe er Schildwache davor. Es war ein prächtiger Schneemann! Er musste jedem gefallen, und er gefiel auch allen.
“Ein netter Kamerad, den wir da bekommen haben”, sagten die Zaunpfähle. “Hoffentlich versteht er sich auch auf`s Erzählen, damit wir ein wenig Unterhaltung haben.
Es wagte aber niemand, den Schneemann anzureden.
Glücklicherweise fing dieser von selbst an.
“Guten Morgen!” sagte er. “Guten Morgen!” antwortete es von allen Seiten.
“Es ist schönes Wetter heute”, sagte der Schneemann; etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein.
“Ja – aber heute nacht hat es geschneit.”
“Hm” – machte der Schneemann, “natürlich hat es geschneit – stände ich sonst hier? – Nein, dann hätte ich sicher mit der Wolke noch ein gut Stück weiterreisen können und hätte noch viel von der Welt gesehen.”
“Ei”, sagten die Sträucher, “Sie haben gewiss schon schöne Reisen bis hierher gemacht, wollen Sie uns nicht davon erzählen?”
“Gern”, sagte der Schneemann. – Und dann erzählte er. “Ihr habt doch vorhin die Kinder in ihrem Schlitten fahren sehen? Das war ein Vergnügen, nicht wahr? Was würden diese Kinder wohl erst für ein Vergnügen haben, wenn sie in dem Lande wohnten, von dem ich mit der Schneewolke hergereist bin! Da liegt nämlich das ganze Jahr hindurch Schnee, so dass man immer Schlitten fahren muss. Das ist lustig, nicht wahr? Die Schlitten werden aber dort von großen Tieren gezogen, man nennt sie Renntiere. Die armen Tiere! Der Schnee deckt ihnen oft alles Futter auf der Erde zu, sie müssen es sich erst unter dem Schnee hervorholen. Ich habe sie mit ihrem großen Geweihen den Schnee fortschaufeln sehen. In diesem Lande ist es bitter kalt. Die Leute haben immer diese Pelze an. Ja, wenn man mit einer Schneewolke reist wie ich, dann bekommt man wirklich viel Merkwürdigens zu sehen.

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Habt ihr vielleicht schon einmal ein Haus aus Schnee gesehen? Nein, aber ich habe eins gesehen – ja, ja, eine richtige kleine Hütte war`s, mit Fenstern und Tür und Schornstein! Auch Leute wohnten drin. Meint ihr vielleicht, die Leute hätten in ihren Schneehütten gefroren? O nein, der Schnee hielt sie schön warm. Der Schnee macht überhaupt schön warm. Einmal sah ich einen Mann, der hatte sich seine Nase rot und blau gefroren. Was glaubt ihr, was er tat? Er hob Schnee von der Erde auf und rieb sich seine Nase damit, und als er dies ein paar Mal getan hatte, da war die Nase wieder heil, und der Mann war dem Schnee sehr dankbar dafür.
Ich habe auf meiner Reise noch mehr Leute gesehen, die sich freuten, dass es geschneit hatte. Da war zum Beispiel ein Mann, der musste in der Nacht durch den Wald nach Hause gehen. Er hatte aber keine Laterne bei sich und hätte sich sicher im Walde verloren, wenn nicht der Weg und der ganze Wald voll Schnee gelegen hätte. Der Schnee machte es so hell, dass der Mann doch seinen Weg nach Hause fand. Freilich, manchen habe ich auch gesehen, der freute sich gar nicht über den Schnee. Zum Beispiel der Tannenbaum in dem Walde, der an der Schneelast auf seinen Zweigen schwer zu tragen hatte. Oder die Leute, denen der Schnee eine hohe Mauer vor die Tür gebaut hatte, so dass sie gar nicht herauskommen konnten. Und dann die, denen der Sturm soviel Schnee in die Augen blies, dass sie gar nicht sehen konnten.”
In diesem Augenblick kam die Sonne hinter den Wolken hervor.
“Uff!” machte der Schneemann auf einmal, “da ist sie. Nun ist es aus mit mir, ihr werdet es gleich sehen.”
Sie sahen aber zuerst gar nichts, als dass auf einmal aller Schnee ganz wunderschön in der Sonne glitzerte. Es war eine wahre Pracht, die die Sonne da hervorgezaubert hatte. “Traut ihr nicht”, sagte der Schneemann, “die Herrlichkeit wird gleich zu Ende sein. Oh, wäre ich doch mit der Wolke fortgezogen, weiter zu den hohen Bergen hin, wo es so herrlich kalt ist, dass die Schneeflocken nicht in der Sonne zu sterben brauchen, sondern in Eis verwandelt werden und ewig leben.”
So sprach der Schneemann.
Aber was war denn das? Der ganze Garten weinte ja auf einmal! Von jedem Strauch, von jedem Zaunpfahl, von der Laube und von der Pumpe fielen große Tropfen herab in den Schnee, und jeder machte ein Loch hinein. Weinten sie alle, weil der Schneemann vom Sterben sprach, der Schneemann, der ihnen so hübsch erzählt hatte?
Ach nein – es war Tauwetter eingetroffen, das war`s. Immer mehr Sonnenstrahlen kamen, und jeder schmolz ein bisschen von dem Schnee hinweg, jeder ließ ein Stückchen Herrlichkeit zerfließen.
Und gerade, als sie am allerschönsten war!
Aber so geht es ja immer.