Weihnachten war in Sicht, und Schwester Käthchen saß in der großen Kinderstube zwischen ihren Schützlingen – Kinder, die nie Elternliebe gekannt hatten oder den Misshandlungen ihrer Eltern entrissen worden waren. Nun saßen oder lagen oder standen sie um Schwester Käthchen herum, die einen Haufen Kinderwäsche zum ausbessern vor sich hatte und vom Christkind erzählte. “Traurig war die Welt und dunkel. Ach, so dunkel und kalt. Kein Mensch war froh. Auch kein Tier. Es war ein so großes Frieren. Da hatte der liebe Gott Erbarmen. Er schickte das Christkind. Und das Christkind kam. Vom Himmel hoch kam’s herab und zündete das Bäumlein an mit tausend lustigen Lichtern, dass es warm wurde auf der kalten Erde und hell und froh, dass alle Kinder jauchzten und schöne Lieder sangen und niemand mehr traurig war auf Erden.”
So sprach sie und noch vieles andere. Dass sie nun alle brav sein müssten und folgsam. Nicht mit leeren Händen dürften sie vor den Christbaum treten.
“Ich habe meine Suppe aufgegessen,” müssten sie zum Christkind sagen können. “Ich habe meine Schürze reingehalten.” “Ich war nicht gefräßig.”
Solche Dinge müssten sie dem Christkind bringen. Auch die heiligen drei Könige, die von weither dem Stern zu Bethlehem nachgezogen seien, hätten dem Christkind eine Menge schöner Sachen mitgebracht.
Die kleinen Mädchen saßen längst um die Perlenschachtel, um Kränzlein zu machen für den Weihnachtsbaum.
Der Fritzl aber wollte immer noch von den heiligen drei Königen erzählt haben.
“War er sehr groß, der Stern zu Bethlehem?” lauteten seine Fragen.. “Ich hab’ viele Stern’ schon g’sehn. War er viel größer, viel schöner? Glaubst, dass er noch manchmal am Himmel steht, wenn auch die heiligen drei Könige jetzt tot sind? Gelt, sag’ mir, wenn er am Himmel steht, und ich sollt’ grad schlafen.”
Schwester Käthchen versprach ihn zu wecken. Da gab’s ein
großes Geschrei. Sie wollten alle geweckt sein. Wollten alle den Stern sehen.
Ach, so groß wie die Seligkeit in der armen Kinderstube, so heiß die Erwartung – eine Erwartung und Sehnsucht, wie sie jene Hirten und Könige einstens empfanden, dass sie kamen von allen Seiten und nichts wollten, und nichts begehrten als anzubeten, niederzusinken vor dem Heile der Welt, das endlich gekommen. Aber so wie den Fritzl, so gewaltig ergriff die Erregung keins der Kinder. Er störte sie alle. Er wusste nicht, was anstellen vor mächtiger Freude. Er schwatzte den ganzen Tag.
Ihm hatte das Christkind noch nie einen Baum angesteckt. Ihm war das alles so neu, so wunderbar neu. Eine Sehnsucht ergriff ihn, etwas zu geben, Schwester Käthchen eine Freude zu machen.
“Weißt, jetzt will ich dir’s sagen, wo meine Mutter wohnt,” begann er, den Arm um den Hals der Schwester schlingend, “in München wohnt sie bei einer großen Wiese. Siehst, jetzt sag’ ich dir alles. Und dass sie mich auf die Gass’ gejagt, wie sie den Schwesterln einen Baum g’macht. Hab’ die Lichter durchs Fenster g’sehn. Hast eine Freud’ jetzt?”
Nein, sie hatte keine, sie hatte keine! Wie oft hatte sie ihn gefragt, wo er zu Hause sei, ihm gedroht, er müsse ihr sagen, wo er zu Hause sei, wo seine Eltern wohnten. Immer wieder war nachgefragt worden, ob man nichts von ihm wisse, ob er noch immer nicht gesprochen. Und jetzt gerade vor Weihnachten, hatte er’s getan. Wenn sie es nun sagte, so würde man ihn am Ende holen und heimbringen zu jener Mutter, die ihn auf die Gasse gejagt, während sie ihren andern Kindern einen Baum angesteckt.
Nein, nein, sie wollte sein Geheimnis nicht verraten. Er sollte seine Weihnacht noch haben, ehe er in die Heimat ausgeliefert wurde.
Sie schwieg. Sie war doppelt gut zu ihm.
Und endlich kam der heilige Abend, und Fritzl trat mit den Kindern vor den Baum mit den vielen Lichtern und dem glänzenden Stern obenan.
“Da ist er ja, da ist ja, der Stern,” schrie er ganz außer sich vor Freude.
Aber er wurde zurückgehalten. Die Kinder sangen mit den Schwestern, und die alten Pfründnerinnen sangen mit und vergaßen ein wenig ihre Gebrechlichkeit.
Der Fritzl aber konnte fast nicht stillhalten. All das Singen, all das Reden dauerte ihm viel zu lang. Er war der erste, der vor der Krippe mit dem Christkind stand. Und siehe da, einen Haufen Sachen zwängte er aus seinen Taschen, lauter entwendetes Gut, und legte es stolz und glückselig vor das Christkind hin, rühmte sich noch damit, hielt die Kinderhäubchen, schmutzige Taschentücher, Griffel, Bleistifte hoch, hoch – “Und das – und das – schau alles, das schenk’ ich dir -“
Nein, es konnte keiner zanken. Man konnte nichts sagen vor Lachen.
Schwester Käthchen meinte entschuldigend: “Er hat mich ein wenig missverstanden. Ich wird’s ihm schon klarmachen,” und nahm ihn beim Kopf.
“Weißt, Fritzl, Gestohlenes darf man dem Christkind nicht bringen.”
“Aber sonst hab’ ich ja nichts,” meinte er.
Die Tage vergingen und Schwester Käthchen hatte noch immer nichts gesagt. Sie konnte es nicht übers Herz bringen.
Der Januar ist so kalt, kam sie mit sich überein, ich will noch ein wenig abwarten.
Der Februar war auch noch kalt.
Jetzt wurde der Polizeiagent dringend.
Also dann sprach sie.
Und eines Morgens richtete sie ein kleines Bündel zusammen. Der Gendarm stand schon vor der Türe. Schnell befestigte sie eine Schnur mit einem Medaillon um den Hals ihres Lieblings, küsste ihn und schob ihn über die Schwelle. Sie zitterte, sie hielt die Türe fest zu. Im nächsten Augenblick hörte sie ihn schreien, markerschütternde Töne waren’s.
Schwester Käthchen warf sich über ihr Bett und schluchzte und schwor und schwor: “Ich werde kein Kind mehr lieben – ich werd’ kein Kind mehr lieben – ” Aber es kamen neue Kleine und mit ihnen neues Elend. Sie hatte keine Zeit, ihrem Schmerz nachzuhängen. Die ihr anvertrauten Kinder verlangten ihre Gegenwart, verlangten stürmisch nach ihrer Heiterkeit.
Und so wurde sie wieder die alte. Sie vergaß ihn nicht, den Fritzl, aber sie hatte sich beruhigt, und bald vergingen Tage und Wochen, ohne dass sie seiner gedachte.
Als aber Weihnacht wieder vor der Tür stand, ging’s ihr ganz seltsam. Sie wehrte sich, sie wollte nicht, aber der Fritzl ging ihr nicht aus dem Sinn. Eine große Unruhe erfasste sie. Die Frage ließ sie nicht los: Wie wird es ihm gehen – wie wird es ihm gehen?
Wieder verfertigten die kleinen Mädchen Perlenkränzlein für den Weihnachtsbaum, und wieder erzählte die Schwester die alte und ewig neue Geschichte vom Christkindlein, das in die dunkle kalte Welt das Licht und die Freude gebracht.
Im Kinderwagen lagen zwei neue Geschöpfchen, und die vom letzten Jahr krabbelten auf dem Boden herum. Schwester Käthchen sah sich unter ihren Schützlingen um, und es fuhr ihr durch den Sinn: So wie über den Fritzl hab’ ich doch nie wieder über ein Kind lachen müssen. Wie wär’s doch schad’ um ihn, wenn er zugrund’ gehen müsste.
Der Schnee schlug gegen die Fensterscheiben. Es war ganz still auf der Gasse, so tief und weich war die Decke über dem Erdboden.
“Wird sie ihn am End’ wieder hinausschicken, wenn sie ihren andern Kindern beschert?” murmelte Schwester Käthchen vor sich hin.
Eine Magd erschien unter der Türe.